Abdichtsystem I – Rückruf und Vernichtung bei internationalen Fallkonstellationen

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Dieser erste Teil der Entscheidungsbesprechung behandelt die Feststellungen zum Verhältnis der Ansprüche auf Rückruf verletzender Produkte, auf deren Entfernung aus den Vertriebswegen, sowie auf Vernichtung bei Konstellationen, in denen die Beklagte nicht in Deutschland ansässig ist. Das Urteil entscheidet die jeweiligen Streitfragen in jeweils tendenziell patentinhaberfreundlicher Weise.

Zur Entscheidung

BGH, X ZR 120/15, Urteil vom 16.05.2017 (veröff. GRUR 2017, 785)

Relevante Rechtsnormen

§ 140a III 1 PatG, Art. 10 RL 2004/48/EG

Sachverhalt

Der sehr „ergiebigen“ Entscheidung liegt eine Konstellation zugrunde, bei der die Beklagte in Italien ansässig ist und die patentbenutzenden Produkte einerseits dort vertreibt, andereseits selbst nach Deutschland liefert. Im italienischen Ausland beliefert sie allerdings auch Abnehmer, die die Produkte sodann ihrerseits (auch) nach Deutschland einführen.

Das LG Mannheim hatte Ansprüche auf Unterlassung, Rechnungslegung, Rückruf und Entfernung aus den Vertriebswegen zugesprochen und die Schadensersatzpflicht festgestellt, den Anspruch auf Vernichtung hingegen abgewiesen. Als verletzend wurden insbesondere die Verkaufsaktivitäten der italienischen Beklagten auf dem deutschen Markt angesehen.

In zweiter Instanz verfolgte die Klägerin erfolglos das Ziel, auch den Vertrieb in Italien als den deutschen Teil des geltend gemachten Patents verletzend zu erfassen, soweit die dortigen Abnehmer ihrerseits die Produkte nach Deutschland einführten.

In der Revisionsinstanz streiten die Parteien um Bestehen und Umfang des Anspruchs auf Rückruf bzw. Entfernung aus den Vertriebswegen, sowie um die durch die Klägerin weiterhin geltend gemachte Verletzung durch den Vertrieb in Italien an Kunden, die ihrerseits nach Deutschland importieren.

Bisherige Rechtsprechung

Die instanzgerichtliche Rechtsprechung spricht in regelmäßiger Praxis die Ansprüche auf Rückruf und auf Entfernung aus den Vertriebswegen zu, ohne dem Kläger eine Wahl abzuverlangen. Die Karlsruher Rechtsprechung hat dabei jüngst weiterhin festgehalten, dass Beantragung und Verurteilung zur „Entfernung aus den Vertriebswegen“ ohne Festlegung auf eine ganz bestimmte Art solcher Entfernung ausreichend bestimmt sind (OLG Karlsruhe, Urteil vom 07.10.2015 – 6 U 7/14, veröffentlicht in GRUR 2016, 482 (483)).

Bei der Frage des Verhältnisses von Rückruf- und Vernichtungsanspruch gingen die Meinungen der Berufungsgerichte in Düsseldorf und Karlsruhe teils auseinander. Der zweite Düsseldorfer Berufungssenat vertrat die Ansicht, dass bei von vornherein ausgeschlossener Vernichtung zurückgerufener Produkte auch der Anspruch auf entsprechenden Rückruf als akzessorischer Hilfsanspruch ausscheide (OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.07.2013 – I-2 U 98/11, veröffentlicht als BeckRS 2013, 18747). Das OLG Karlsruhe ist dem ausdrücklich entgegengetreten und hat eine eigenständige Berechtigung des Rückrufanspruchs auch in diesen Fällen angenommen (OLG Karlsruhe, Urteil vom 07.10.2015 – 6 U 7/14, veröffentlicht in GRUR 2016, 482).

Entscheidungsgründe

Die Ansprüche auf Rückruf und Entfernung aus den Vertriebswegen bestehen separat und kumulativ. Der Rückrufanspruch ist ein selbstständiger Folgenbeseitigungsanspruch und als solcher nicht akzessorisch zum Vernichtungsanspruch.

Der Bundesgerichtshof befasst sich zunächst mit der Frage, in welchem Verhältnis die Ansprüche auf Rückruf und auf Entfernung aus den Vertriebswegen zueinander stehen. Der Senat bestätigt dabei die auch von der Vorinstanz zugrunde gelegte Ansicht, die beide Ansprüche als inhaltlich verschieden und nach Wahl des Klägers frei kumulierbar erachtet.

Der Wortlaut des § 140a III 1 PatG mit der verknüpfenden Konjunktion „oder“ lässt sowohl eine enge Interpretation im Sinne eines Alternativverhältnisses („entweder-oder“) zu, als auch ein Verständnis im Sinne freigestellter Kumulation (entweder Rückruf oder Entfernung oder beides).

Die Grundlage in Art. 10 RL 2004/48/EG begründet schon aus dem Grund keine Beschränkung, dass der deutsche Gesetzgeber jedenfalls das Recht gehabt hätte, über das in der Richtlinie nur als Minimum vorgegebene Schutzmaß hinauszugehen.

Für die Möglichkeit kumulativer Geltendmachung sprechen die jeweiligen Inhalte der Ansprüche, die sich in Inhalt und Zielsetzung voneinander unterscheiden und dabei ergänzen. Während die Rückrufpflicht ausschließlich auf ein Bemühen gerichtet ist, die Abnehmer zur freiwilligen Rückgabe der betroffenen Produkte zu bewegen (wobei keinerlei Erfolg dieser Bemühungen geschuldet wird), kann die Verpflichtung zu einer Entfernung je nach den Umständen des Einzelfalls auch das Ausüben von Zwang auf rückgabeunwillige Abnehmer erfordern.

Der Senat wendet sich sodann der Frage zu, ob bzw. inwieweit der Rückrufanspruch abhängig von dem zumindest möglichen Bestehen eines parallelen Vernichtungsanspruchs für die betroffenen Produkte ist.

Hintergrund dieser Fragestellung ist die Tatsache, dass ein Vernichtungsanspruch (im Gegensatz zum Rückrufanspruch, der ja gerade Produkte erfasst, die sich bei Abnehmern des Beklagten befinden) entweder inländisches Eigentum oder inländischen Besitz des Beklagten an den betroffenen Produkten voraussetzt. Bei einem im Ausland ansässigen Unternehmen – wie hier der italienischen Beklagten – wird aber auch ein erfolgreicher Rückruf regelmäßig nur zu einer Rückführung der Produkte in ebenjenes Ausland führen und damit gerade nicht die Voraussetzungen einer anschließenden Vernichtung schaffen. Falls der Rückrufanspruch also als bloßer Hilfsanspruch akzessorisch mit dem Vernichtungsanspruch verknüpft wäre, so schiede er bei im Ausland ansässigen Beklagten ebenfalls regelmäßig aus. Zum gegenteiligen Ergebnis (Rückrufanspruch besteht regelmäßig auch bei „Auslandskonstellationen“) kommt man, wenn man den Rückrufanspruch nicht lediglich als vorbereitenden Hilfsanspruch ansieht, sondern ihm eine originäre Daseinsberechtigung als unabhängiger Folgenbeseitigungsanspruch zuerkennt. Hiernach dient der Rückruf bereits gelieferter Produkte – in Ergänzung zu der im Wesentlichen in die Zukunft gerichten Unterlassungsverpflichtung – einer Beseitigung des schutzrechtswidrigen Zustandes bereits an kommerzielle Abnehmer gelieferter Produkte.

Der Senat bejaht den „eigenständigen“ Charakter des Rückrufanspruchs und spricht ihn dementsprechend zu. Die Diskussion (in Rz. [33] der Entscheidung) fällt dabei vergleichsweise kurz aus und verweist ohne nähere Erläuterung auf die „einander ergänzende Zielrichtung“ der in § 140a PatG normierten Ansprüche.

Konsequenz

Lesen Sie dazu auch den Beitrag “Abdichtsystem II – Haftung für Verkäufe im Ausland” von Matthias Weiden.

Die hier besprochenen Aspekte der Entscheidung stellen sich als recht patentinhaberfreundlich dar. In beiden diskutierten Punkten entscheidet sich der Bundesgerichtshof für ein Verständnis, das dem Kläger im Patentverletzungsverfahren weitergehende Ansprüche gegen den Beklagten zuerkennt. So kann zunächst die Entfernung aus den Vertriebswegen auch neben dem Rückruf der Produkte verlangt werden, womit für den Beklagten – je nach Fallkonstellation – Handlungspflichten entstehen können, die über eine bloße Aufforderung zu im Übrigen freiwilliger Rückführung der Produkte hinausgehen. Im Weiteren bejaht der Senat sodann die Eigenständigkeit des Rückrufanspruchs und eröffnet seine Geltendmachung damit gerade auch gegenüber im Ausland ansässigen Beklagten, gegen die ein Vernichtungsanspruch regelmäßig ausscheidet.

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Matthias Weiden
Matthias Weiden ist Rechtsanwalt in einer internationalen Sozietät und dort auf Patentstreitigkeiten spezialisiert. Er hat neben den deutschen Staatsexamina und der französischen Maîtrise en Droit auch einen Master in Public Policy an der Harvard University erworben. Auf nationalen und internationalen Konferenzen spricht er etwa zu der deutschen und europäischen Rezeption der Huawei v. ZTE - Rechtsprechung und zu Rechtsproblemen des Patentschutzes für softwareimplementierte Erfindungen.
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