Die Entscheidung hält fest, dass der Patentanspruch anhand desjenigen Kenntnisstandes auszulegen ist, den der Durchschnittsfachmann am Anmelde- bzw. Prioritätstag besessen hat. Erst nachträglich verfügbar gewordene Informationen sind daher belanglos. Dies gilt auch dann, wenn es darum geht, ob das angegriffene Erzeugnis nicht mehr als einen bestimmten Prozentanteil von Verunreinigungen (saure Varianten eines bestimmten Antikörpers) enthält und das diesbezügliche Ergebnis unterschiedlich ausfällt, je nach dem, ob allein die am Anmelde/Prioritätstag verfügbar gewesenen Analysemethoden in Betracht gezogen werden oder auch solche, die erst danach aufgekommen sind und ein höheres Maß an Sensibilität besitzen, so dass auch bisher unerkannt gebliebene Verunreinigungen aufgedeckt werden.
Manches spricht dafür, dass es für die Maßgeblichkeit des Prioritätstages ausreicht, dass auf dem Deckblatt der Patentschrift ein entsprechendes Prioritätsdatum verzeichnet ist. Ob die Priorität zu Recht (d.h. wirksam) in Anspruch genommen wurde, hat sodann für die Auslegung keine Bedeutung.
Zur Entscheidung
Relevante Rechtsnormen
Art. 69 EPÜ, § 14 PatG
Sachverhalt
Das Verfügungspatent betrifft ein Gemisch aus Exemplaren eines bestimmten Antikörpers (Trastuzumab) und sauren Varianten davon. Patentgemäß sollen die sauren Varianten „weniger als etwa 25 %“ des Gemisches ausmachen und vorwiegend eine desamidierte saure Variante enthalten. Vereinfacht ausgedrückt schützt das Verfügungspatent ein im Hinblick auf saure Varianten besonders reines Antikörpergemisch.
Die Verfügungsklägerin greift das gegnerische Arzneimittel als patentverletzend an, weil dessen Anteil saurer Varianten, mit der am Prioritätstag verfügbar gewesenen Bakerbond- Säule gemessen, deutlich weniger als 25 % betrage. Ein mit der Dionex-Säule erst heute gefundener Peak 3* sei mit der Bakerbond-Säule nicht gefunden und damit auch nicht als saure Variante identifiziert worden. Dementsprechend dürfe dieser Peak 3* (der den Anteil auf über 25 % erhöhen würde) auch bei der Verletzungsprüfung nicht als saure Variante im Sinne des Verfügungspatents angesehen werden.
Entscheidungsgründe
- Für das Verständnis von „weniger als etwa 25 %“ kommt es darauf an, wie der Fachmann diesen Wert im Prioritätszeitpunkt aufgefasst hätte. Denn die Patentauslegung hat aus Sicht eines Durchschnittsfachmanns im Prioritätszeitpunkt bzw. – wenn kein Prioritätszeitpunkt existiert – im Anmeldezeitpunkt zu erfolgen. Nachträglich gewonnene Erkenntnisse können daher nicht zur Bestimmung des Schutzbereichs herangezogen werden. Hierdurch wird gewährleistet, dass der Schutzbereich nicht nachträglich durch neue Erkenntnisse variiert wird. Es ist ein anerkannter Auslegungsgrundsatz, dass der Schutzbereich der Erteilung unverändert fortbesteht bis der Anspruch geändert oder das Patent widerrufen oder vernichtet wird. Einem Abstellen auf den in der Patentschrift verzeichneten Prioritätstag steht nicht entgegen, dass die Verfügungsbeklagte die Wirksamkeit seiner Inanspruchnahme bestreitet. Es ist nicht vorgetragen oder sonst ersichtlich, dass sich der Kenntnisstand des Durchschnittsfachmanns zwischen Prioritäts- und Anmeldedatum in einem für die vorliegende Streitfrage relevanten Umfang geändert hat. Zudem erscheint fraglich, ob im Falle einer unwirksamen Prioritätsbeanspruchung für die Auslegung auf den Anmeldetag abzustellen ist. Denn der Fachmann kann dem Verfügungspatent nur das Prioritätsdatum entnehmen, nicht aber die Wirksamkeit von dessen Inanspruchnahme.
- Wird im Anspruch – wie hier – ein Wert ohne Bezugnahme auf ein Messverfahren definiert, versteht dies der Fachmann als absoluten Wert auf Grundlage der im Prioritätszeitpunkt verfügbaren Meßtechniken. Zur sicheren Feststellung der Merkmalsverwirklichung reicht es zwar noch nicht aus, wenn nur eine von mehreren Analysemöglichkeiten des Prioritätstages bei einem Gemisch einen Anteil von weniger als etwa 25 % saurer Antikörper ergibt. Vielmehr hat der Fachmann zur objektiven Bestimmung des Anteils grundsätzlich sämtliche im Prioritätszeitpunkt verfügbaren Messmethoden im Blick zu halten. Lässt sich feststellen, dass ein Fachmann auf dieser Grundlage, d.h. bei Heranziehung aller damals verfügbaren Analyseverfahren, einen Anteil an Verunreinigungen von weniger als etwa 25 % gemessen hätte, ist dieses Gemisch auch dann patentverletzend, wenn neuere, empfindlichere Messmethoden zeigen, dass der Wert tatsächlich bei über 25 % liegt. Die nur mit neueren, jedoch nicht mit den am Prioritätszeitpunkt verfügbaren Messmethoden erkennbaren sauren Varianten dürfen mit anderen Worten nicht in den Wert von 25 % einbezogen werden.
Entscheidungsgründe
Der Entscheidung ist zuzustimmen, insbesondere in ihrer Ansicht, dass die Verhältnisse im Prioritätszeitpunkt auch dann auslegungsrelevant sind, wenn die Priorität nicht wirksam in Anspruch genommen worden sein sollte. Denn der Zeitrang ist mit dem Erteilungsakt zunächst verbindlich festgelegt und deshalb für die Patentauslegung hinzunehmen. Genauso wenig wie das Verletzungsgericht bei der Auslegung des Patents einem etwaigen Neuheitseinwand aus dem Rechtsbestandsverfahren nachgehen würde, hat es sich nicht mit der Frage zu befassen, ob die fragliche Priorität zu Recht zuerkannt worden ist. Etwas anderes gilt erst dann, wenn sich die Prioritätsverhältnisse als Folge einer Rechtsbestandsentscheidung ändern.